Der Friseur
„Was kann ich für dich tun?“, fragte der Friseur ohne recht aufzublicken. Der Fremde, der das Geschäft betreten hatte, erwiderte nichts. Er setzte sich auf den Rand der ledernen Sitzgarnitur, die andeuten sollte, dass dies nicht irgendein Friseur war. In dieser Straße legte man Wert auf Das-etwas-andere-XYZ. Der Kunde des Friseurs saß in einem Autosessel aus den siebziger Jahren und blickte durch das Schaufenster frontal auf die Straße. Vor ihm liefen Beine und zuweilen blinzelte er, als könne er mit dieser Methode einen der üblichen Spiegel in sein Gesichtsfeld bringen. Der Spiegel würde ihn, das wusste er, vor den Blicken der Passanten schützen. Aber die Wahrheit war: Er trug ein dämliches Lätzchen um den Hals und war ihnen ausgesetzt.

„Es ist lang her, dass unsere Handwerke miteinander verbunden waren“, begann der Tod langsam. „Früher schertest du mir alle, die aufs Schafott kamen. Wenn ich sie holte, so erkannte ich an ihnen deiner Hände Arbeit. Du warst auch Wundarzt oder Feldscher, viele deiner Kunden waren die meinigen. Heute aber, da weiß ich so gut wie nichts über dich.“ „Ich bin ein Friseur“, sagte der Friseur. Der Tod nickte. Er erhob sich und nahm eine Dose Haarwachs vom gegenüberliegenden Regal. Zögernd öffnete er sie und roch daran. „Was ich meine, ist,“, fuhr er fort, „wir sollten Überlegungen anstellen, wie wir wieder näher zusammen kommen können.“ Der Friseur hielt einen Moment inne und blickte auf. „Und dieses Zeug wäre sicher ein Ansatz“, dachte der Tod, sagte aber nichts. „Nein, das geht nicht,“ sagte der Friseur. „Und heute schon gar nicht. Ich bin alleine hier. Ich habe Termine zum Schneiden gemacht. Aderlass ist aus der Mode und die Verwundeten gehen alle an die Chirugen und Mediziner.“ Der Tod schwieg und ging eine Weile auf und ab. Er musterte den Rest des Ladens und blieb vor der Urwald-Fototapete, welche die hintere Ecke des Ladens schmückte, stehen. „Warum hast du keinen Spiegel?“, fragte er. „Da ist doch einer“, entgegnete der Friseur und wies mit der Schere hinter sich. „Ich meine VORNE.“ „Wenn ich ihnen alberne Frisuren mache, ist das zu offensichtlich. Ich demütige sie lieber auf diese Weise.“ „Verstehe“, entgegnete der Tod und blickte auf den Latzmann. Beim Hinausgehen schrieb er sich eine Notiz auf sein Handgelenk.



Das Paket, das ein paar Tage später eintraf, enthielt einen kleinen runden Spiegel, der an einer langen Aluminiumkette befestigt war. Vier Tage ignorierte der Friseur den Inhalt, dann stand er auf einer Leiter und befestigte die Kette mit einer Hakenschraube an der Decke. Die Kunden würden seine Hände beim Schneiden sehen, das war ihm nicht Recht. Er drehte sich eine Zigarette und setzte sich in den Autosessel. Rauchend maß er in Armlängen den Abstand zum Spiegel.

Der Tod hatte ein kleines Vogelskelett in die Fototapete geklebt und wusch sich die Hände. „Wenn ich dir einen Tipp geben darf“, sagte der Friseur, „du solltest etwas Haarwachs nehmen. Deine Haare sind wirklich sehr trocken.“ Der Tod griff nach einem Handtuch und blickte dabei auf den Kopf des Professors, der sich gerade alle Überlegungen und Buchstaben wegshampoonieren ließ. Er kam einmal in der Woche und jedes Mal war es ihm wie eine Beichte. Unter den Händen des Friseurs schlingerte ein kleines A den Abfluss hinab und der Professor empfand Erleichterung und Dankbarkeit (was er in einer Fußnote (1) vermerkte). „Möchten Sie sie heute auch geschnitten haben?“ fragte der Friseur. „Ja, warum nicht?“, murmelte der Professor. Das warme Wasser und die Hände des Friseurs hatten ihn milde gestimmt; in seinem Kopf herrschte wohltuende Ruhe, ein flaumiges, wattiges Nichts. Er setzte sich in den Autosessel und registrierte halbdösend sein Gesicht im Spiegel, während der Friseur mit dem Schneiden begann. Der Professor blinzelte und es kam ihm vor, als hätte sich irgendetwas zwischen die Buchstaben geschoben, er wusste aber nicht, wie er es benennen sollte. „Gute Auswahl“, sagte der Tod an den Friseur gewandt, während er dessen CD-Sammlung durchstöberte. „Ich selbst kaufe keine Musik mehr, das meiste lade ich aus dem Internet. Soweit ich mich erinnere, zuletzt: Greatest Hits von Mahalia Jackson.“ „Zum Glück bin ich nicht so einer“, entgegnete der Friseur. „Und übrigens: Es ist mir lieber, wenn du vorher anrufst. Anrufen geht immer.“

In einem schwäbischen Städtchen, so berichtet Jean Paul 1789 in seiner Auswahl aus des Teufels Papieren, wurde seinerzeit ein Friseur auf den Scheiterhaufen geführt. Überliefert ist die Hexenkunst, so viele Haare unter die Haut zaubern zu können, wie über ihr wuchsen.
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(1) Neque porro quisquam est, qui dolorem ipsum, quia dolor sit, amet, consectetur, adipisci velit […](Es gibt niemanden, der den Schmerz selbst liebt, der ihn sucht und haben will, einfach, weil es Schmerz ist […] Cicero. De finibus bonorum et malorum. 1.10.32, 1.10.33).

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