Ohr
Plötzliche Todesfälle kommen immer wieder vor. Die Leute werden von Autos überfahren, erleiden beim Sport oder Sex einen Herzinfarkt, sitzen in abstürzenden Flugzeugen, essen Fugo-Fisch. Für gewöhlich tun sie dies, ohne das Passwort ihres Rechners zu hinterlassen und nichts grämt die Verwandtschaft so, wie ein Haufen Daten, ein kleiner Intimbereich, in dem sich Posthum herumschnüffeln ließe, wenn... ja, wenn.

So erhielt er einen außergewöhlichen Stundensatz. Auf Wunsch kam er zu den Kunden nach Hause, aber da sich Laptops einer immer größeren Beliebtheit erfreuten, war das seltener notwendig. Die Verwandtschaft, in schwarz gekleidet und noch ganz Trübsal, stellte das Gerät auf seinen grünen Schreibtisch und nahm anschließend auf einem Halbkreis Stühle platz. Vorsichtig legte der Festplattenabhörer ein ohr auf die Unterseite des Gerätes und machte ein pathetisches Gesicht (es war nur Show, aber die Kundschaft liebte das). Und so beugten sich die Oberkörper auf den Stühlen gespannt nach vorne. »Adobe Acrobat-Dokument, geändert am 24.04.2004« begann der Festplattenabhörer. »Auf Computer-instruktionscodes projiziert, ließe sich Nietzsches...«... »E-Mail vom 12. August 2003 - Ihr Lieben, danke für die Einladung. Plant mich und Gitte mit ein.« Die Prozedur dauerte Stunden, in denen er Giga-Byte an komplett uninteressantem Datenmaterial vorlesen musste. Hinzu kam die Qual, zusammenfassungen von Bild- und Filmmaterial geben zu müssen. Und immer der langweiligste Mist, den man sich denken konnte. Mitunter führte das zu Reibereien mit der enttäuschten Verwandtschaft und einmal entkam er nur knapp einer Schlägerei. Aber was konnte er dafür? Er war nicht verantwortlich für das langweilige Leben dahingeschiedener Sekretärinnen und Bademeister. So war das nun einmal.

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